Es gibt Werke, die vom ersten Ton an begeistern. Und es gibt solche, die unsere volle Aufmerksamkeit verlangen. Die sich nur nach und nach öffnen – und dann lange in uns nachklingen. Die Konzertreihe Denkmäler der Sinfonik richtet sich an alle, die bewusst hören wollen – mit Interesse an Form, Kontext und Detail. An Zuhörerinnen und Zuhörer, die nicht nur hören, sondern auch verstehen möchten, warum gerade diese Werke als Meilensteine der sinfonischen Musik in die Geschichte eingegangen sind.
Jedes Konzert dieser Reihe beginnt mit einer kurzen, informellen Einführung – wird sie vom Direktor der Mieczysław-Karłowicz-Philharmonie in Szczecin selbst gehalten: Przemysław Neumann, der an diesem Abend auch am Dirigentenpult steht. Eine besondere Gelegenheit, eine Sinfonie mit den Ohren des Dirigenten zu hören – von innen heraus, mit dem Kommentar eines Menschen, der jeden Takt und jede Pause nicht nur aus der Partitur kennt, sondern auch von der Bühne.
Im Zentrum des Abends steht eines der rätselhaftesten und bewegendsten Werke der Romantik: Sinfonie Nr. 6 in b-Moll, op. 74 Pathétique von Pjotr Tschaikowski. Vollendet im Sommer 1893 und erstmals aufgeführt am 28. Oktober – nur neun Tage vor dem Tod des Komponisten. Dieses Werk stellt die klassische Logik des sinfonischen Zyklus auf den Kopf. Das Finale – normalerweise der dramatische Höhepunkt – wird bei Tschaikowski zum Epilog. Der dritte Satz hingegen, kraftvoll und im Marschrhythmus, wurde vom Premierenpublikum irrtümlich für das Finale gehalten – viele hielten das Werk für beendet und spendeten begeisterten Applaus.
Und das ist kaum verwunderlich: Tschaikowski baut Spannung nicht primär über Melodie auf, sondern über Rhythmusstrukturen. Es ist der Rhythmus, der das ganze Werk zusammenhält – Wiederholungen, Verzögerungen, überraschende Pausen. Selbst der zweite Satz, scheinbar tänzerisch, ist „anders“: ein Walzer im 5/4-Takt, leicht schwankend, wie aus dem Gleichgewicht geraten. Diese Unsicherheit ist kein Zufall – sie zeigt, dass die Emotionen in dieser Sinfonie sich nicht den klassischen Regeln unterwerfen. Noch überraschender ist das Ende: kein klassischer Schluss, sondern ein Verklingen in stiller Auflösung. Fast so, als wollte Tschaikowski sagen: Nicht alles muss einem vorgegebenen Schluss folgen.
All das macht die Pathétique – trotz ihrer großen Popularität – zu einem vielschichtigen, schwer fassbaren Werk. Man kann sie nicht wirklich hören, wenn man nur an der Oberfläche bleibt. Deshalb laden wir zu diesem Konzert mit voller Aufmerksamkeit ein – und mit Offenheit für die Geschichte, die beginnt, noch bevor das Orchester den ersten Ton spielt.
Tschaikowskys 6. Sinfonie, aufgeführt von der Dresdner Philharmonie unter der Leitung von Marek Janowski: